Wolkensteins Lebenszeugnisse und seine gesamteuropäische Bedeutung

   Außer den beiden Liederbüchern ist zum Leben Oswalds von Wolkenstein eine außergewöhnlich große Anzahl an Lebenszeugnissen überliefert. Dabei sind die wichtigsten Archivalien aus Oswalds persönlichem Besitz im Wolkenstein-Archiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt. Insgesamt sind jedoch mehr als 600 Urkunden, Dutzende von Siegeln und Bildnissen erhalten, welche einen einzigartigen Einblick in das abenteuerreiche und wechselvolle Leben des Ritters Oswald von Wolkenstein gewähren. Diese Hinterlassenschaft erlaubt es den Biographen, teilweise bis ins kleinste Detail nachzuzeichnen, wie Wolkenstein vom unbedeutenden Zweitgeborenen eines Tiroler Freiherrn bis zum hoch dekorierten Ritterhelden, Freischöffen in der exklusiven Gerichtsbarkeit der westfälischen Feme und zum Rat Kaiser Sigismunds, des höchsten abendländischen Souveräns seiner Zeit, aufgestiegen ist.
   Die wichtigsten Abzeichen dieses gesellschaftlichen Erfolgs stellt das Porträt in der Innsbrucker Liederhandschrift in einer beeindruckenden künstlerischen Qualität zur Schau: Um den Hals trägt der Dargestellte den aragonesischen Kannenorden der höchsten Stufe in goldener Kette mit anhängendem Greif und weißer Schärpe. Diesen Orden hatte sich Oswald von Wolkenstein im Jahr 1415 dank seiner Beteiligung an der Wiedereroberung der nordafrikanischen Küstenstadt Ceuta für die christlichen Königreiche der Iberischen Halbinsel erworben. Daneben prangt der Drachenorden, ebenfalls höchster Stufe, den Kaiser Sigismund seinem Rat 1431 als Anerkennung für lange Jahre ritterlicher Dienste, vermutlich auch zur Ehrung seiner Sangeskunst, verliehen hatte.
   Nach Aussagen in seinen Liedern galt der Tiroler Ritter zudem als geschätzter Sänger an verschiedenen Höfen innerhalb und außerhalb des Heiligen Römischen Reichs. Als seine Gönner erwähnt der Autor unter anderen die Erzbischöfe von Salzburg und Köln, die Herzöge von Tirol und von Berg am Niederrhein oder den Pfalzgrafen bei Rhein. Besonders stolz stellt er allerdings seine Ehrungen an den Königshöfen von Aragon und Paris dar, wo er jeweils aus der Hand der Königin mit Juwelen für seine Sangeskunst ausgezeichnet worden sei.
   Oswald von Wolkenstein schält sich somit als eine Persönlichkeit von gesamteuropäischer Bedeutsamkeit heraus. Diese vielfältigen Bezüge in seinem Werk und in seinem Leben zu erhellen, bedarf es vermehrter interdisziplinärer Forschungen: Eine faszinierende Aufgabe, welche auf zunehmend breite Resonanz in der Mediävistik stößt, zumal die spätmittelalterliche Endzeit- und Umbruchs-Epoche gleichfalls in den Brennpunkt neuester mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen gerückt ist. Die genannten Gründe legen es nahe, die Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft als Forum zur interdisziplinären Erforschung der spätmittelalterlichen Kultur in Europa weiter auszubauen.
   Parallel dazu beschäftigt sich die Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft mit der Erfassung und Deutung der neuzeitlichen Rezeption von Leben und Werk Oswalds von Wolkenstein. In dieser Hinsicht stellt der spätmittelalterliche Autor einen Glücksfall mediävistischer Rezeptionsforschung dar. Denn sowohl sein künstlerisches Werk als auch seine Lebensgeschichte sind seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert zum Gegenstand höchst bemerkenswerter Neuschöpfungen in Bildender Kunst (u. a. Markus Vallazza, Simon Dittrich), Musik (Cesar Bresgen, Reinhard Felbel, Wilfried Hiller z. B.), in Film (Michael von Wolkenstein) und Literatur (Hubert Mumelter, Frank Köllges, Dieter Kühn u. a.) geworden. Unangefochtener Spitzenreiter der Rezeptionsgeschichte bleibt Dieter Kühns Biographie ‚Ich Wolkenstein’. Seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1977 zählt dieser historische Roman zu den auflagenstärksten Bestsellern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Ein lohnender Anlass, die deutsche Sprach- und Literaturgeschichte in ihrer Gesamtheit ins öffentliche Bewusstsein zu heben.




Oswald von Wolkenstein - sein Leben im überblick


Aus: Geschichte der deutschen Lyrik. Vom Mittelalter bis zum Barock. Reclam Klassiker auf CD-ROM. Stuttgart 1996, Kap. Oswald von Wolkenstein von Sieglinde Hartmann.

Um 1377 - Vermutlich auf Burg Schöneck im Pustertal als zweiter - und deswegen materiell benachteiligter - Sohn der Katharina von Villanders und des Friedrich von Wolkenstein geboren. Beide Familien gehörten zum niederen Adel, waren jedoch schon seit Jahrhunderten zu beträchtlichem Besitz und Ansehen in der Grafschaft Tirol gelangt.

Um 1387 - um 1400 – Oswald zieht als Knappe vermutlich in der Obhut eines Ritters des Deutschen Ordens durch Teile Europas; sodann als Ritter auf Kriegszügen in Preußen und Litauen; bereist weite Teile Europas, Nordafrikas und des Vorderen Orients.

Um 1400 - Oswalds Vater stirbt und Oswald kehrt nach Tirol zurück.

1401/1402 - Teilnahme am unglücklichen Italienfeldzug König Ruprechts von der Pfalz (Kaiser von 1400-1410).

1405 - Im Erbschaftsstreit mit seinem Bruder Michael wird Oswald von diesem mit dem Schwert lebensgefährlich verletzt, nachdem er zuvor seine Schwägerin beraubt hatte.

1409-1413 - Oswald ist in Diensten des Bischofs von Brixen tätig u.a. als Richter. Im nahen Chorherrenstift Neustift erwirbt er 1411 Wohnrecht und wird zum weltlichen Schutzherrn des Klosters ernannt. In den Brixener Jahren Minnedienst-Verhältnis mit der Schulmeistertochter Anna Hausmann aus Brixen.

1415 - Oswald tritt auf dem Konstanzer Konzil am 16. Februar in die Dienste König Siegmunds von Luxemburg (1368-1436, 2. Sohn Kaiser Karls IV., seit 1387 König von Ungarn, von 1410-1436 deutscher König und Kaiser). In dessen Auftrag 1415/16 Teilnahme an Gesandtschaftsreisen u.a. nach Portugal (Beteiligung an der Eroberung der maurischen Stadt Ceuta in Nordafrika), Aragon und Frankreich.

1417 - Heirat mit Margarete von Schwangau (Oberschwaben). Margarete stammte aus dem hoch angesehenen schwäbischen Geschlecht der reichsunmittelbaren Herren von Schwangau, das u.a. berühmt für ihren Vorfahren, den Minnesänger Hiltbold von Schwangau, war. In eigens für seine Ehefrau komponierten Liedern verherrlicht Oswald ihren Adel, ihre Schönheit und ihre reine Sopranstimme. Für sie verfasste er die schönsten seiner Liebesduette.

1420 (wahrscheinlich) - Herbst: Teilnahme am Hussitenfeldzug. Kurzfristig auf Burg Wyschehrad bei Prag mit anderen Tiroler Rittern eingeschlossen.

1421 - Herbst: Oswald wird von seinen Gegnern - u.a im Erbschaftsstreit um Burg Hauenstein (bei Seis) - auf Schloss Forst bei Meran eingesperrt und gefoltert. Herzog Friedrich IV. von österreich, Landesherr von Tirol, übernimmt den Gefangenen, der als Mitglied des Südtiroler Adelsbunds schon lang gegen den Herzog opponiert hatte, am 17. Dezember in landesherrliche Haft und lässt ihn erst drei Monate später gegen eine hohe Kaution frei.

1425 - Anlage der ersten Liederhandschrift (= Hs. A) auf Pergament, heute: österr. Nationalbibliothek Wien, Cod. Vind. 2777.

1427 - 1. März: Nach Querelen, Flucht und erneuter Haft wird Oswald von Herzog Friedrich freigelassen und kann die Hauensteinschen Güter erwerben. Als letztes Mitglied des Tiroler Adelsbunds unterwirft er sich dem österreichischen Landesfürsten Friedrich.

1428 – Aufnahme als Freischöffe in der westfälischen Feme, Abschrift der ‚Ruprechtschen Fragen’ (= älteste und vollständigste Fassung des Femerechts, heute: Wolkenstein-Archiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg).

1431-1434 - Oswald nimmt an den Reichstagen in Nürnberg bzw. in Ulm teil und begleitet König Siegmund zu seiner Krönung nach Rom. Während seines Italienaufenthalts im Gefolge des Kaisers lässt er vermutlich sein heute weit berühmtes Porträt malen, das er in die zweite Prachthandschrift mit seinen Liedern einbinden lässt.

1432 - Fertigstellung dieser zweiten Liederhandschrift in Pergament mit lebensechtem Porträt aus der Pisanello-Schule (= Hs. B), die heute in der Universitätsbibliothek Innsbruck (ohne Signatur) aufbewahrt wird. Die Hs. B bildet die Grundlage der wissenschaftlichen Standardausgabe seiner Lieder von Karl Kurt Klein.

1445 - Am 2. August stirbt Oswald in Meran (Alto Adige); er wird nach Neustift bei Brixen (Bressanone) überführt und in der Klosterkirche beigesetzt.

Nach 1445 – Anfertigung einer Abschrift aller Liedtexte (ohne Melodien) vorwiegend nach Hs. B auf Papier für den familiären Gebrauch = Hs. c, heute: Bibliothek des Museums Ferdinandeum, Innsbruck; Signatur: F.B. 1950.




Eine musikalische Einspielung bietet folgende CD, die über die Gesellschaft zu beziehen ist:
Es fuegt sich. Lieder des Oswald von Wolkenstein. Gesungen von E. Kummer. CD mit Beiheft.
Preis: EURO 10,- für Mitglieder, EURO 15,- für Nichtmitglieder.

Zweisprachige Gesamtausgaben:
Klaus J. Schönmetzler: Oswald von Wolkenstein. Die Lieder mhd.-deutsch. München 1979 [mit Melodien], Oswald von Wolkenstein. Sämtliche Lieder und Gedichte. Ins Neuhochdeutsche übers. von Wernfried Hofmeister. Göppingen 1989 [Ohne Melodien, mit Sekundärliteratur zu einzelnen Liedern].

Biographien / Monographien:
Anton Schwob, Oswald von Wolkenstein. Eine Biographie, Bozen 1977, zahlreiche weitere Auflagen,
Dieter Kühn: Ich Wolkenstein. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1977 und öfter, Karen Baasch / H. Nürnberger: Oswald von Wolkenstein. Baltica Verlag, Flensburg 1995 [= rororo Bildmonographien 360].

Kommentar:
Werner Marold: Kommentar zu den Liedern Oswalds von Wolkenstein. Hrsg. von Alan Robertshaw. Innsbruck 1995

Edition der Lebenszeugnisse:
Anton Schwob u.a. (Hrsg.): Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein, Edition und Kommentar, 5 Bände. Wien, Köln 1999 ff.




Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein. Edition und Kommentar. Bd. 3: 1428 - 1437, Nr. 178 - 275. Hg. von Anton Schwob unter Mitarbeit von Karin Kranich-Hofbauer und Brigitte Spreitzer, kommentiert von Ute Monika Schwob. Böhlau Verlag: Wien, Köln, Weimar.

In dieser Buchreihe von fünf Bänden wird das Leben einer nichtfürstlichen Persönlichkeit des Spätmittelalters anhand schriftlich überlieferter Lebenszeugnisse dokumentiert. Das hier vorgelegte Quellenmaterial lag bisher nur zum kleineren Teil und in veralteter Form gedruckt vor. Es mußte in rund 40 in- und ausländischen Archiven gesucht, gefunden, transkribiert und beschrieben werden. Die historisch-diplomatische Edition der einzelnen Stücke wird von jeweils ausführlichen Kommentaren begleitet. Oswald von Wolkenstein (ca.1376 - 1445), einer der bedeutendsten Vertreter deutscher Lyrik, erweist sich dabei als ein klassischer Vertreter des niederen Adels seiner Zeit und ist als Rechtssachverständiger, Krieger, Diplomat sowie Fürstendiener ebenso aktiv wie als Künstler. Seine Lebenszeugnisse bieten wichtige Erkenntnisse zur spätmittelalterlichen Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte sowie zur frühneuhochdeutschen Sprachperiode im österreichisch-bayerischen Raum.

Hatte der erste Band mit dem Zeitraum von 1382 bis 1419 einen jüngeren Sohn aus Tiroler Adelsfamilie vorgestellt, der sich in ganz Europa um seine Karriere bemühte, so konzentrierte sich der zweite Band auf die relativ kurze Zeitspanne von 1420 bis 1428, die von Fehden, Gefangenschaften und Konfliktlösungen im Land Tirol geprägt war. Der dritte Band umfaßt die Jahre 1428 - 1437, die den Wolkensteiner als etablierten Landadeligen, als umtriebigen Prozessierer und als von auswärtigen Fürsten wie auch von König Sigmund von Luxemburg anerkannten Berater präsentieren.